Großfamilie

Ich hatte immer ein recht natürliches Verhältnis zum Tod. Einige Leute haben mir das als gefühlslos, wieder andere sogar als krankhaft ausgelegt. Ich habe ihn halt immer als etwas ganz Natürliches begriffen. Etwas, das alle Menschen gleich und damit menschlich macht. Ich habe schon wirklich viele Leute zu Grabe getragen und bin eigentlich relativ gut darin, das schnell als Fakt zu akzeptieren. Das ist es garnicht.

Es ist etwas anderes. Eigentlich bin ich ja mit einer relativ großen Familie gesegnet. Aus dem Stammbaum meines Großvaters gibt es eine beachtliche Menge an Großtanten, -onkeln, Basen oder Großcousins. Ich hab es immer als Privileg begriffen, wenn beispielsweis auf einem Geburtstagsfest meines Großvaters über 100 Familienmitglieder aus ganz Deutschland angereist und freudestrahlend gemeinsam gefeiert haben. Ich kann zum Glück sagen, dass meine Familie mit relativ wenigen Streitereien oder gar Intrigen belastet ist. Ich hab das von anderen Seiten oder auch von einigen Stammbaumzweigen schon völlig anders erlebt.

Zu den wenigen Festlichkeiten, wo wir uns alle eingefunden haben, habe ich mich unter den vielen, mir häufig nur dem Gesicht nach bekannten Leuten, sofort herzlich empfangen gefühlt. Es brauchte keinerlei Worte, um uns gegenseitig klar zu machen: ‚Wir gehören zusammen. Wenn Du Hilfe brauchst, ich bin für dich da.‘ Rückwirkend betrachtet, bin ich erstaunt über die Leistung meines Großvaters, diese Familienbänder immer frisch und aktiv zu halten, sich um jeden Einzelnen zu kümmern und dafür zu sorgen, dass wir uns gegenseitig nicht aus den Augen verlieren. Etwas, dass ich nicht mal ansatzweise so leisten könnte. Er war ein wichtiger Knotenpunkt in unserer Verwandtschaft.

Dass Verwandte sterben schmerzt mich nicht so sehr. Das gehört zum Leben. Dass mir immer mehr solcher wichtigen Knotenpunkte unter den Fingern wegrutschen und damit das Gefühl der Großfamilie stirbt, schmerzt mich. „Wir sehen uns irgendwie nur noch zu Beerdigungen“, sagte mein Vater letztens zu mir während einer Autofahrt. Und er hat Recht. Der Tod fühlt sich für mich menschlich an. Der Verlust von Familie nicht.

Mir ist bewusst, dass sich unsere moderne Zeit zum Individualismus hin bewegt. Ich lebe ja auch so. Und vielleicht ist das Alles ja wirklich nur eine ganz natürliche Evolution, welche die Familie, vor allem die großfamiliären Bänder, durch neu geschaffene Sicherheiten nach und nach überflüssig macht. Und vielleicht bin ich dann einfach nur schrecklich konservativ, wenn ich sage, dass mir dieser Verlust nicht gefällt. Zumal ich noch in den Genuß kam, den letzten Zipfel dieser Erfahrung mit zu erleben. Ich möchte also behaupten, ich weiß, wovon ich spreche.

Und wenn ich mich ernsthaft zwischen dem Individualismus und der kollektiven Familie entscheiden müsste, Himmel, ich würde mich ohne eine Sekunde zu zögern auf diese eine Seite stellen. Nicht, dass ich jemals von den Vorteilen einer Großfamilie profitiert hätte. Ich war niemals von irgendeinem fremden Verwandten abhängig und bei Zusammenkünften war ich für die Meisten vermutlich bestenfalls eine Randerscheinung. Mir geht es um das „Wir-Arbeiten-Miteinander-Nicht-Gegeneinander“, das Zusammengehörigkeits-Gefühl an sich, das eigene Interessen auch mal hinten anstellt, Arbeit, Freude und Leid teilt, ohne nachzudenken, ohne irgendein strategisches Papier in der Hinterhand zu haben, wie es sich heute bereits in die privatesten Lebenslagen selbst hineinzieht.

Klar wird das Alles nur anhand einer simplen Blutlinie definiert, die wir Verwandtschaft nennen. Aber wenn ich zu den wenigen Zusammenkünften noch einmal sehe, wie naiv, einfach, ehrlich und bürgerlich meine ältere Verwandtschaft sich als funktionierende Einheit sieht und daran wächst – und dann höre, wie meine Generation schon an den einfachsten Beziehungsfragen kläglich versagt, sich selbst und andere betrügt, taktiert, lametiert, kommt mir die Kotze hoch. Ich fass mich dazu leider auch an meine eigene Nase, weil sich auch meine Sozialisierungsfähigkeiten zurückgebildet haben.

Bei mir geht das Ganze vielleicht sogar einen Schritt weiter, weil ich mich mit diesem aktuellen Trend schon so wenig identifizieren kann, dass ich mich selbst arrangiere und meine Erwartungshaltung auf das was kommt gegen Null fahre. Ich genieße immer noch das, was kommt – aber ich weiß, das etwas fehlt, und dass ich nicht mehr darauf bauen kann: Vor einiger Zeit habe ich entsetzt festgestellt, dass die einzige Konstante, die Dir im Leben bleibt, deine festen Freunde sind. Früher hat man alles seinem Ehepartner erzählt und damit seine Last geteilt. Wie soll das heute noch funktionieren, wenn man realisiert, dass einem zwar die besten Freunde bleiben, nicht aber mal die eigenen Beziehungen?

In der Konsequenz wird es auch immer schwieriger, daraus Familien zu entwickeln. Mein Großvater hatte zu den Festlichkeiten noch knapp 100 Verwandte auf seiner Liste – und das von 9 bis 90 Jahren. Das fand ich unique. Unsere Generation feiert, überspitzt gesagt, gerade mal noch eben jenen besten Freunden und vielleicht mit dem aktuellen Lebensgefährten, der dann beim nächsten Mal schon wieder ganz anders aussieht. Und ich hab schon Leute erlebt, bei denen die Beziehung erstmal in die Brüche gehen musste, damit Kommunikation entsteht. So paradox kann’s werden.

Ich weiß nicht. Wenn ich zwischen den Welten pendele, fühlt sich meine Generation für mich einfach falsch an. Ich bin relativ gut darin, Sachen so zu akzeptieren, wie sie sind und mache in der Konsequenz halt erst Mal wenig bis nichts, so lange ich keine Chancen sehe. Ich werde auch nicht mal ansatzweise in der Lage sein, Teile meiner Großfamilie irgendwie am Laufen zu halten, so wie wir uns das bei jedem erneuten Traueranlass gegenseitig gebetsmühlenartig vorreden und so wie es mein Großvater galant konnte. Aber sollte mir dennoch irgendwann die Möglichkeit gegeben werden, eine Familie zu gründen, dann will ich zumindest etwas daran setzen, dieses vergessene, unterschätzte, wichtige Glücksgefühl wieder anzukurbeln, von dem mir jetzt erst bewusst wird, dass es mir zukünftig sehr fehlen wird und der moderne Ersatz das leider nicht mal ansatzweise kompensieren kann.

0 Gedanken zu “Großfamilie”

  1. Ich drück dir die Daumen, daß du das gut hinkriegst. Ich hab den Fehler gemacht, nur im kleinen Freundeskreis zu heiraten und jetzt bin ich auf keine Familienfeier mehr eingeladen. (Als Einzige, versteht sich.) 🙁

  2. Interessant. Mein Großvater väterlicherseits und meine Großmutter mütterlicherseits sind beide letztes Jahr gestorben und jetzt wo ich das lese fällt mir auf, dass ich seitdem kaum Verwandte gesehen habe außer meiner Mutter, meinem Vater, meinen Schwestern und deren Kinder. Dabei ist die Familie insgesamt auch ziemlich groß. Irgendwie gibt es jetzt keinen Grund mehr, dass alle zusammenkommen. Es sind halt immer alle an den Geburtstagen der Großeltern angerückt. Ich habe nicht mal alle Telefonnummern.

  3. Sehr guter Beitrag und ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen. Meine Familie ist vielleicht nicht so groß wie Basti’s aber der Zusammenhalt stimmt. Ohne Familie zu sein macht das Leben zwar nicht unmöglich, aber mit einer starken Familie ist es doch leichter zu händeln, weil man sich in jeder Hinsicht auch mal unterstützt. Ich sag immer Freunde kommen und gehen, Familie bleibt man immer.

  4. Hallo Sebastian,

    Dein Beitrag gefällt mir. Ich werde mich bemühen, das Erbe meines Vaters wenigstens ansatzweise weiterzuführen. Mal sehen, wieviele noch überbleiben bei den heutigen Geburtenraten ?
    Hannes Grünwald

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