Mein persönlicher ACTA-Rant

Manchmal fragen mich Leute, warum ich aktuell nichts über ACTA und die Protestbewegung schreibe. Ich gebe zu, die aktuellen Ereignisse sind für mich gefühlsmäßig ein zweischneidiges Schwert.

Einerseits freue ich mich natürlich, dass die Bevölkerung endlich gegen ACTA auf die Straße geht. Andererseits deprimiert mich aber auch eine andere Sache – und das klingt jetzt mit Sicherheit schrecklich überheblich, beleidigend, frustriert, arrogant – aber: Wo wart ihr Massenbewegung eigentlich vorher die ganze Zeit? Wo wart ihr, als ACTA eigentlich Thema wurde?

Meine Meinung: Ihr habt geschlafen und seid nun kurz aufgewacht.

Guten Morgen.

Ihr werdet es nicht glauben, aber es gibt Leute, die sind schon eine ganze Weile wach. Was ACTA betrifft schon ein paar Jahre. Als ich Euch die Zeit über mit dem Thema konfrontierte, war die Standard-Beschimpfung von Euch meist ein schlaftrunkenes „Verschwörungstheoretiker!“. Kurz vor knapp habt ihr nun begriffen, dass es die Wahrheit ist. Mal wieder, übrigens.

Wirklich hinterfragt habt ihr Eure Schlaftrunkenheit nicht, oder? Wirklich hinterfragt, warum ihr das über Jahre hinweg verpasst habt, obwohl die Information seit Jahren da war? Wie viele von Euch haben gegen Zensursula gekämpft? Und wie viele waren dann noch dabei, als es zu Cencilia wurde? Ich wette, die meisten wissen heute noch nicht mal, wer Cecilia ist und dachten ernsthaft, die Debatte sei vorletzten Februar von Horst Köhler tatsächlich beigelegt worden. Hallo! Aufwachen!

Die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Es ist Krieg. Und alle gucken schön den Leuchtraketen hinterher, ohne zu begreifen, dass wir von allen Seiten befeuert werden. Ich erwarte mit Sicherheit nicht, an allen Fronten zu kämpfen – ein wenig mehr Selbstreflexion, Aufmerksamkeit und Verhältnismäßigkeit aber schon.

Meine letzten Aktivitäten im Untergrund sind schon einige Zeit her und ich bin mit Sicherheit der Letzte, der sich in seinem aktuellen Lebensumfeld noch als Hacker bezeichnen würde – aber ich fühle mich dieser Gruppe immer noch zugehörig und verfolge netzpolitische Ereignisse, Leaks und dergleichen weiterhin ziemlich aufmerksam. Es ist nur natürlich, dass die Hacker das Wissen über das, was in der Welt so vor sich geht, als erstes in die Hände kriegen – sei es nun ein publikumswirksamer Julian Assange oder eben der Informatikstudent von nebenan.

Warum vergehen dann aber teilweise Jahre, bis etwas passiert? Ich glaube, es ist eine Mischung aus anerzogener Falschselektion – es wird einfach zunächst nicht erkannt, was wichtig ist, weil die Bestätigung in der eigenen Peergroup fehlt -, generellem Unglauben (oder zu geringem Vorstellungsvermögen) und fehlendem Rechts- und Medienverständnis. Ich glaube, die meisten Leute haben wirklich erst durch einige – zugegeben wirklich gut gemachte – Tutorial-Videos begriffen, was ACTA ist und es in ihren Wahrnehmungsfokus aufgenommen. Hätte man ihnen das Treatment als Quelle selbst vorgelegt, wäre gar nichts passiert, möchte ich wetten.

Mich frustriert das.

Man mag mich nun steinigen, dass ich den Massen ihre eigene Trägheit oder Unwissenheit zum Vorwurf mache, als wäre es jemals anders gewesen. Ich hätte auch gar nichts gesagt, wenn man nicht plötzlich sehen würde,  dass eigentlich die Mehrheit auf unserer Seite ist. Dass wir eben nicht die Minderheit sind. Dann hätte ich das akzeptiert. Aber ohne eine neue Ära der Aufklärung werden wir diesen Krieg nicht gewinnen. Lemminge, die in die richtige Richtung laufen, sind nett. Aber es bleiben nutzlose Lemminge.

Als ich, wie viele andere Netz-Frühaktivisten, in das Themenspektrum eingestiegen bin, hatte auch ich kurzzeitig mit Depressionen zu kämpfen. Wir waren wenige und unser belastendes Wissen konnten wir nur beschränkt teilen. Man wedelte mit den Fakten vor den Köpfen anderer Schlafwandler herum, die einfach durch einen hindurch blickten. So behielt man sie meistens sowieso für sich. Die Zeit empfand ich auch persönlich als anstrengend und es war für mich und meinen Körper der Anfang vom Ende des täglichen Aktivismus. Frank Riegers und Rop Gonggrijps Rede beim Chaos Communication Congress 2005 unter dem Titel We lost the war: Welcome to the world of tomorrow war für mich kennzeichnend für diese Zeit. Eigentlich hatten wir schon aufgegeben. Die nächsten CCC-Hacker-Kongresse standen entsprechend unter kriegerischen Slogans. 2010 war es „We come in peace“. 2011 dann bereits „Behind enemy lines“. Die Bezeichnungen haben einen Grund.

Zugegeben: Seitdem hat sich tatsächlich vieles verbessert. Wir bekamen Demos wie „Freiheit statt Angst“, Online-Petitionen gegen die Vorratsdatenspeicherung mit plötzlich 50.000 Unterschriften, einige wichtige Verfassungsgerichts-Urteile, sogar ein neues Grundrecht  und die Piraten zogen in die Landtage ein. Ich weiß, ich höre mich apokalyptisch an obwohl ich weiß, dass es vorwärts geht.

Auch Rop Gonggrijp hat seine negative Einstellung von 2005 fünf Jahre später revidieren müssen. Er spricht mir dabei aus dem Herzen und legt die Sachlage besser dar, als ich das jemals könnte. Auch wenn ich die Rede schon mehrfach hier empfohlen habe, werde ich daher nicht müde, sie erneut hier zu posten. Keiner hat mein Gefühl diesbezüglich je besser eingefangen und ich kriege jedes Mal Gänsehaut, wenn ich ihn reden höre…


(Quelle: Youtube)

Gut, der Krieg ist also noch nicht verloren. Aber ihr Massen müsst aufhören, zu glauben, mit kurzzeitigem Protest sei es getan. Ihr müsst endlich wachsam bleiben, Euch informieren, die Quellen lesen, Eure Meinung auch politisch vertreten und nicht nur den großen Protesten allein hinterherlaufen: Niemanden nützt es was, wenn unser Bundespräsident ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung nicht unterschreibt, weil ihr vor seinem Haus demonstriert habt, nur um dadurch im Freudenrausch zu übersehen, dass Brüssel das Gleiche gerade hinter Eurem Rücken als EU-Richtlinie durchgewunken hat.

Ihr habt geschlafen und seid nun kurz aufgewacht. Das Problem ist nicht ACTA. Das Problem seid ihr. Das Problem ist, dass ihr garantiert alle wieder einschlafen werdet – bis zum nächsten Event, dem ihr wie Lemminge nachlaufen könnt, um Euch besser zu fühlen. Am Ende der Bürgerrechtsbewegung nach, welche gerade die beste Nachrichtenwelle erwischt. Wirklich informiert habt ihr Euch  nicht. Ihr könnt auch nicht dauerhaft davon ausgehen, dass Euch jedes Problem vorgekaut wird. Irgendwann müsst ihr selbst essen lernen! Und so ändert sich tatsächlich erst mal nichts. Und das wissen die da oben.

Der Sturm der Massen führt vielleicht zu einem Rückzug der Politiker – zurück in das Schneckenhaus, bis sich der Sturm wieder gelegt hat. Aber er ändert die Politiker und erst recht die Politik nicht. Erst wenn sie feststellen, dass das Thema in der Gesellschaft angekommen ist, dass jede Entscheidung, die sie täglich treffen durch, die Mehrheit der Bevölkerung -auch der, die nicht aktiv auf der Straße Fahnen schwenkt- beobachtet und hinterfragt wird,  erst wenn sie täglich im Wahlkampf darauf angesprochen werden, wenn andere Parteien in die Regierungsverantwortung kommen, erst wenn es die Gesellschaft so verinnerlicht hat, dass die Leuchtraketen nicht mehr ablenken können, erst wenn sich die Masse medienkompetent und eigenverantwortlich mit dem Internet ausseinandersetzt, die richtigen Quellen nutzt, Wahrheit von Fälschung unterscheiden kann, erst und nur dann, gibt es Chance auf dauerhafte Änderung und dem Erwachsen eines neuen Gesellschaftsbewusstseins.

Also beweist mir, dass ich mit Euch unrecht habe. Ich habe nicht gerne unrecht. Aber ich würde nichts lieber tun, als meine überhebliche Meinung zu revidieren.

0 Gedanken zu “Mein persönlicher ACTA-Rant”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert